Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe
Aus: Junge Welt Ausgabe vom 10.03.2017, Seite 11 / Feuilleton
Dialektische Beschuldigungen
Mühelos: »Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe« von Peter Hacks in der Compagnie de Comédie in Rostock
Von Anja Röhl
Nächste Vorstellung: 11.3., 20 Uhr
Seit das Rostocker Theater sich von seinem Bereich Schauspiel mehr oder weniger verabschiedet hat (es wird nach Sewan Latchinians Rauswurf überwiegend Musiktheater gegeben), ist in der Stadt die Compagnie de Comédie interessant geworden. Dort spielt man seit neuestem Peter Hacks: »Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe«.
Frau von Stein, Goethes langjährige Freundin, Angebetete und Geliebte hält ihrem Ehemann, der zur Weimarer Gesellschaft gehört, einige Tage nach der heimlichen Abreise des Dichterfürsten aus Weimar, einen Monolog, der ihre Beziehung zu Goethe aufklären soll. Dieser Monolog nimmt unvorhersehbare Wendungen. Und am Ende hat das Publikum etwas Besonderes erfahren, nicht nur über die Geschlechter und ihre Kulturformen, sondern auch über einen bekannten Dichter und eine ungewöhnliche und großartige Frau. Die Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin Katja Klemt, die zwölf Jahre am Theater Vorpommern zahlreiche Hauptrollen spielte, überzeugt hier unbedingt.
So stark und gebrochen, so fein ironisch wie verletzlich gespielt sah ich dieses Stück noch nie. Wie Klemt als Frau von Stein das Liebesdrama aus der sachlichen Anfangsszene akribisch herausschält, wie sie Lüge für Lüge aus den einzelnen Schichten ihrer Persönlichkeit enthüllt und wie sie dabei ein Porträt des Künstlers Johann Wolfgang von Goethe entstehen lässt, ganz so, als wollte sie etwas über alle Männer und Frauen der Welt sagen, das ist sehr spannend.
In einem Moment meint man, man durchlebe selbst dieses Spottlieddrama der Liebe, im nächsten ist man wieder nur Analytiker einer deutlich skizzierten Zeit. Man sitzt und staunt und wohnt einem psychologischen Meisterwerk bei. Dabei wirkt alles mühelos. Und wie sie gewinnt, nicht verliert, als sie die Liebe zugibt, niemals klein, armselig, gretchenhaft ist, nie, das ist großartig! Auch kein einziges Mal steht sie, die zu Anfang behauptet, sie habe Goethe nie geliebt, als eine böse Frau da. Ihre Lügen, ihre Beschuldigungen, ihre Enthüllungen widersprechen sich nicht, sie sind dialektisch.
Brecht hatte den Grundsatz, dass die Echtheit in einem Theaterstück nur durch einige wenige realistische Attribute hergestellt werden sollte, nicht durch naturalistischen Nachbau. Auch daran hat man sich hier gehalten. Da sind Briefe, ein kleiner Stapel, da ist eine Kiste, ein Tisch, ein schöner Stuhl, ein wenig Geschirr. Herr von Stein ist eine ausgestopfte Puppe ohne Gesicht. Die männliche Hauptperson existiert nur in der Vorstellungskraft des Publikums. Die weibliche Hauptperson steht vor einem und agiert.